Ein öffentliches Unternehmen mit 600 Mitarbeitenden beschließt einen neuen Weg einzuschlagen. Eine neue Vision muss her. Aber nicht wie sonst, vom Vorstand hinter verschlossenen Türen verabschiedet, sondern anders. Partizipativ, kundenorientiert und kreativ – mit Design Thinking. Es startet ein Aufruf nach freiwilligen Teilnehmenden im Unternehmen mit unerwartet hohem Andrang. 20 geloste Mitarbeitende gehen für drei Tage in einen Co-Working Raum, um eine neue Vision mit dem Design Thinking Ansatz zu entwickeln. Nach drei Tagen haben sie nicht nur eine neue Vision, sondern auch ein neues Mindset entwickelt!
Angefangen hat alles mit der Idee, die Kreativität von Teams und Organisationen zu fördern und schnellere Innovationszyklen zu erreichen. So ist Design Thinking heute eine der erfolgreichsten Methoden zur Förderung von Agilität. Design Thinking ist ein strukturierter und iterativer Kreativprozess. Er eignet sich vor allem zur Entwicklung von Lösungen für komplexe Probleme, die Kunden*innen und Nutzer*innen fokussieren. Ein typischer Design Thinking Prozess besteht aus insgesamt sechs Phasen:
Während die Systematik einer stringenten Vorgehensweise folgt, hat die Methode eine hohe Variabilität in der Ausgestaltung der jeweiligen Phasen. Sie kann auf jede beliebige Problemstellung angewandt werden. Auf spielerische Art werden so Problemfelder bearbeitet und auch abwegige oder unerreichbare Ideen diskutiert. Diese führen zu überraschenden Erkenntnissen. Design Thinking findet daher breite Anwendung in verschiedenen Branchen, z.B. zur Produkt-, Prozess-, Strategie- oder auch zur Visionsentwicklung.
Das revolutionäre an Design Thinking ist jedoch weniger die Vorgehensweise und die angewandten Techniken. Vielmehr geht es um das Mindset, welches sich nachhaltig prägt. Design Thinking verändert nicht nur die Arbeit in Projekten und die Innovationskraft der Mitarbeitenden, sondern es verändert auch ihr Denken. Das geht auf die Grundprinzipien des Ansatzes zurück, die ihn so erfolgreich machen.
In keinem anderen Vorgehen steht der Nutzer so stark im Fokus wie beim Design Thinking. Am Anfang steht bewusst der Aufbau von Empathie und das Wechseln der Sichtweise – anders als in der traditionellen Innenperspektive „Was können wir tun?“ dreht es sich zur vollkommenen Offenheit zum Nutzer*innen „Welches Bedürfnis hat meine Nutzer*innen?“. Dieser Wechsel der Perspektive führt zu einem ersten radikalen Umdenken. In Unternehmen tendieren wir dazu Budgets, Vorgaben und strikte Berichtswege einzuhalten. So stehen nicht mehr das Kundenbedürfnis, sondern die eigenen Restriktionen im Fokus. Das Grundprinzip der Empathie hilft, sich auf die tatsächlichen Bedürfnisse (needs) und Schmerzpunkte (pain points) der jeweiligen Nutzer*innen zu besinnen und einen bewussten Wechsel der Perspektive einzugehen. Hierzu finden Interviews und Beobachtungen mit der Gruppe der Nutzer*innen statt, um ein hohes Maß an Verständnis aufzubauen. Dabei kann der Nutzer beispielsweise Kunden*innen einer Dienstleistung, der Mitarbeitende der HR-Abteilung oder Patient einer Klinik sein.
Design Thinking fördert die Fehlerkultur, in der das Kredo des frühen Scheiterns gilt. Scheitern ist hierbei positiv und durchaus wünschenswert, da es Potenziale zum Lernen und zur Optimierung in einer frühen Phase aufzeigt. Das frühe Scheitern verbindet gleich zwei zentrale Prinzipien: die Stärkung der Fehler- und der Feedbackkultur. Design Thinking fordert die Teilnehmenden heraus wilde Ideen zu wagen. Mit stetigen Feedbackzyklen werden daher im Verlauf des Projekts Ideen laufend getestet und Potenziale diskutiert. Dieses Vorgehen reduziert Risiken. Das ist für viele Unternehmen, in denen Feedback maximal in Mitarbeitendengesprächen stattfindet und Fehler eher als Tabu gebrandmarkt sind, durchaus eine neue Denk- und Herangehensweise. Mitarbeitende, die einmal eine Design Thinking-Kultur gespürt haben, erleben die immensen Vorteile einer offenen, direkten und proaktiven Fehler- und Feedbackkultur umso stärker. Diese kann auch die Sichtweise auf interne Prozesse verändern.
Design Thinking lebt von der Dynamik, die im Team entsteht. Um möglichst viele verschiedene Sichtweisen und Interpretationen zu integrieren, wird auf eine interdisziplinäre Zusammensetzung des Teams hohen Wert gelegt. Das Team profitiert damit nicht nur von dem verschiedenen Fachwissen, sondern auch von den unterschiedlichen Problemlösungsstrategien der einzelnen Mitglieder*innen. Das ist in vielen Unternehmen ein Gegensatz zum klassischen Silodenken. Die Stärken der Team-Diversität werden betont ebenso wie die Kraft der bereichsübergreifenden Kollaboration. Im Prozess des Design Thinkings verschwinden folglich hierarchische Strukturen und werden durch eine hohe Autonomie des Teams ersetzt. Ein weiterer drastischer Bruch mit bekannten Denkmustern im Unternehmen.
Ein wesentliches Element des Design Thinkings ist die Generierung von vielen Ideen durch eine Vielzahl verschiedener Brainstorming-Techniken. Dabei werden insbesondere auch wilde und visionäre Ideen gefördert und zunächst abwegige und unlogische Einfälle zugelassen, um zu überraschenden und neuen Erkenntnissen zu gelangen. Vielen Mitarbeitenden fällt es jedoch schwer außerhalb der festen Denkstrukturen kreativ zu arbeiten und Ideen, die nicht sofort umsetzbar erscheinen, werden verworfen. Das Ausbrechen aus dem selbst gesteckten, engen Denkradius eröffnet neue Potenziale und weckt Neugierde. Mitarbeitende spüren, dass mit Blick auf die tatsächlichen Kundenbedürfnisse und sich ergebenden Möglichkeiten deutlich mehr Optionen entstehen als mit dem bekannten Blick auf Risiken und Restriktionen. Schließlich werden durch das hohe Maß an Empathie und die stetigen Feedbacks sowohl die Veränderungsfähigkeit als auch die Neugierde auf Neues trainiert.
Ein straffer Zeitplan, ein Timer und das Timeboxing sind feste Bestandteile des Design Thinkings. Mit dem sehr pragmatischen Ansatz steht das Experimentieren stets im Fokus. Mit anderen Worten: einfach machen! Für einige Mitarbeitende ist das durchaus eine ungewohnte Situation, die ein Umdenken erfordert. Denn anders als in vielen Meetings gibt es kaum Platz für lange Diskussionen und Abwägungen, stattdessen steht das Ergebnis im Fokus. Der kleinteilige prozedurale Ablauf des Design Thinkings zwingt die Teilnehmenden immer wieder in kurzen Sprints Entscheidungen über Ideen zu treffen, die im nächsten Schritt geprüft und vertieft werden. Dieses Vorgehen setzt Schaffenskraft frei, mit dem Effekt, dass Mitarbeitende stolz auf die raschen Ergebnisse sind, und überrascht von ihrer Schnelligkeit, Dinge anzupacken.
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte und Prototypen überzeugen mehr als hundert Bilder. Die Anforderung der Visualisierung zieht sich durch den gesamten Design Thinking Prozess. Dabei wird der Begriff der Visualisierung sehr breit aufgefasst und beinhaltet neben Zeichnungen, Skizzen und Prototypen auch Storys. Die bildliche Darstellung übermittelt Botschaften und Ideen plastisch und emotional. Während Ideen und Gedanken nicht real sind, machen Prototypen Ideen und Lösungen anfassbar und erlebbar. Die Verständlichkeit wird um ein Vielfaches erhöht und die Komplexität für das Team reduziert. Das bildet die Basis für einen intensiven Austausch auf Grundlage von sehr konkreten Ideen und Lösungen, die greifbar und begreifbar sind. Der Ansatz Kunden*innen, Kollegen*innen oder Mitarbeitenden durch emotionale und bildliche Botschaften zu erreichen ist für viele Unternehmen neu und steht in einem starken Kontrast zu sonst sehr rational geprägten Argumentationen.
Die hier beschrieben sechs zentralen Prinzipien des Design Thinkings prägen zu einem großen Teil die Kultur. Design Thinking führt dazu, dass Menschen bekannte Arbeitsweisen und -abläufe in Frage stellen und sich auf neue Formen der Zusammenarbeit und Lösungsfindung einlassen. Das tatsächliche Potenzial des Design Thinkings ist die inkrementelle und partizipative Veränderung der Kultur. Durch Design Thinking Workshops und das eigene Erproben der Prinzipien wird eine andere Kultur lebendig. Mitarbeitende spüren, dass ein anderes Arbeiten und eine andere Haltung möglich sind. Auch über Workshops hinaus baut sich ein Mindset auf, das diesen Prinzipien folgt. Das Vorleben und Umsetzen dieser Grundprinzipien im gesamten Unternehmen kann einen nachhaltigen Kulturwandel initiieren und stützen.
Die 20 Mitarbeitenden des am Anfang beschriebenen Unternehmens aus der Transformations-Werkstatt hatten vor einigen Wochen ihre Präsentation beim Vorstand. Das Ergebnis ist ein begeisterter Vorstand, die Ausstellung der Prototypen und das Commitment der ersten Führungsebene zur Verankerung der Vision im gesamten Haus – und das mit Design Thinking.
Prof. Larry Leifer, Gründungsmitglied Hasso Plattner Institute of Design in Stanford
In der heutigen dynamischen und schnelllebigen Geschäftswelt ist Selbstorganisation zu einem